Nachaltigkeit für wen? Wo fängt der “Impact” an und mit wem hört er auf?
Nachhaltigkeit ist zu einem Leitnarrativ unserer Zeit geworden. Ob in Strategien großer Konzerne, nationaler Entwicklungspläne oder in der Bildung: Kaum ein Bereich, der sich nicht dem Anspruch der Nachhaltigkeit verpflichtet fühlt. Doch so allgegenwärtig der Begriff ist, so unreflektiert bleibt er oft in seiner Anwendung.
Wer entscheidet darüber, was als nachhaltig gilt?
Welche Stimmen werden gehört – und welche systematisch ausgeblendet?
Wie werden Betroffenheit, Verantwortung und Handlungsmacht verteilt – global wie lokal?
Nachhaltigkeit als systemisch-ethische Herausforderung
In Politik, Wirtschaft und Bildung wird Nachhaltigkeit meist als technische Herausforderung betrachtet: CO₂ reduzieren, Kreislaufwirtschaft fördern, Ressourcen effizient nutzen. Dies führt zu indikatorengesteuerten Lösungen – etwa Nachhaltigkeitsberichten oder ESG-Ratings – die jedoch eines häufig vernachlässigen: Die komplexen sozialen, kulturellen und machtpolitischen Wechselwirkungen.
Wer Systemdenken praktiziert – insbesondere durch die Linse der Critical Systems Heuristics (CSH) nach Werner Ulrich – erkennt schnell: Nachhaltigkeit ist keine „neutrale“ Zielgröße, sondern eine normative Setzung. Ein besonderer Schwerpunkt von Werner Ulrich lag auf Gesundheitssystemen und -politik, wo er seine CSH-Methodik auf praktische Herausforderungen anwendete, z. B.:
Zugangsgerechtigkeit und Ressourcenzuteilung
Ulrich zeigte auf, wie Gesundheitspolitik oft implizite Annahmen über “legitime” Patientengruppen trifft – z. B. zwischen chronisch Kranken und Akutfällen, Migrantinnen und Einheimischen oder jungen vs. alten Patientinnen. CSH macht sichtbar, wer in politischen Zieldefinitionen „mitgedacht“ wird – und wer nicht.
Demokratische Beteiligung in Gesundheitssystemen
Ulrich betonte, dass Gesundheitsplanung nicht nur auf Expertensystemen (Ärzte, Ökonomen) basieren darf, sondern Betroffene strukturiert eingebunden werden müssen – etwa durch partizipative Prozesse auf Gemeindeebene oder Patientenräte.
Ökonomisierung im Gesundheitswesen
Er kritisierte, dass Managementlogiken wie Fallpauschalen oder Effizienzkennzahlen nicht neutral, sondern normativ wirksam sind – und damit bestimmte Zielgruppen systematisch benachteiligen können. CSH hilft, solche „unsichtbaren“ Machtwirkungen offenzulegen.
Auf der Basis der etablierten CSH Kriterien von Werner Ulrich müssen wir fragen:
Wessen Problem wird gelöst?
Werden Maßnahmen für die betroffenen Gruppen entwickelt – oder von außen für sie definiert? Beispiel: Entwicklungsprojekte in Subsahara-Afrika, die „nachhaltige Landwirtschaft“ fördern, ohne lokale Anbausysteme und Kulturpraktiken ernsthaft einzubeziehen.
Wer darf mitentscheiden?
Wie inklusiv sind die Prozesse wirklich? In vielen Klimagremien sind indigene Stimmen oder Vertreter*innen des Globalen Südens unterrepräsentiert – obwohl sie am meisten betroffen sind.
Was zählt als relevantes Wissen?
Häufig dominieren techno-ökonomische Modelle. Soziale, emotionale oder spirituelle Wissensformen (z. B. indigene Ökologie) werden marginalisiert. Nachhaltigkeit wird zu einem Expertendiskurs ohne Resonanz in der Lebensrealität vieler Menschen.
Wer profitiert – und wer zahlt den Preis?
Elektromobilität mag lokal Emissionen senken, erzeugt aber anderswo Umweltzerstörung durch Lithiumabbau. Der CO₂-Handel ermöglicht es Unternehmen, sich grün zu rechnen – während globale Gemeinschaften die sozialen Kosten tragen.
Wie wird Wirkung gemessen?
Wirkungsindikatoren sind oft kurzsichtig: Ein „nachhaltiges“ Projekt gilt als erfolgreich, wenn es seine CO₂-Ziele erreicht – selbst wenn es soziale Ungleichheit verstärkt oder kulturelle Praktiken zerstört.
Deutschland: Nachhaltigkeit mit systemischen Lücken?
Beispiele aus deutschen Initiativen zeigen diese Probleme auf:
Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) orientiert sich zwar an den SDGs, bleibt aber stark daten- und indikatorfixiert. Kritiker bemängeln, dass systemische Zielkonflikte nicht offen benannt werden – etwa zwischen Biodiversitätsschutz und industrieller Landwirtschaft.
Das Programm „Nachhaltige Stadtentwicklung“ fördert innovative Wohnkonzepte. Doch Gentrifizierungseffekte, die einkommensschwache Gruppen verdrängen, werden selten als Nachhaltigkeitsproblem behandelt – obwohl sie direkt aus Maßnahmen resultieren.
Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in Schulen und Hochschulen fokussiert auf Konsum, Klima und Recycling. Aber: Eine kritische Auseinandersetzung mit sozialen Machtverhältnissen, politischer Ökonomie oder kultureller Diversität findet oft nicht statt.
Globale Perspektiven: Nachhaltigkeit im Machtfeld
Der UN Global Compact wird von über 15.000 Unternehmen weltweit unterzeichnet – doch viele nutzen ihn als Greenwashing-Instrument. Eine systemische Analyse würde fragen: Wie transparent sind Governance-Strukturen? Wer kontrolliert die Umsetzung?
Der internationale CO₂-Kompensationshandel erlaubt es westlichen Unternehmen, Emissionen durch Projekte im Globalen Süden auszugleichen. Doch viele dieser Projekte (z. B. Aufforstung) basieren auf der Verdrängung lokaler Bevölkerungsgruppen und kolonialen Logiken.
Nachhaltige Modeketten verkaufen faire Kleidung, deren Produktionsbedingungen jedoch kaum überprüft werden. CSR-Labels beruhigen das Gewissen, ohne strukturelle Lieferkettenmacht infrage zu stellen.
Was wäre ein alternativer systemischer Ansatz?
Ein systemischer Ansatz – orientiert an CSH – würde:
Grenzen des Systems definieren
Systemgrenzen iterativ verhandeln – Betroffene, Nicht-Akteure, Umwelt einbeziehen
Stakeholderanalyse vertiefen
Perspektiven marginalisierter Gruppen explizit integrieren
Zielsetzungen hinterfragen
Wirkungsziele mit Ethik, Zukunftsgerechtigkeit und Pluralität abgleichen
Messsysteme pluralisieren
Neben KPIs auch narrative, qualitative und erfahrungsbasierte Indikatoren zulassen
Reflexivität fördern
Nachhaltigkeit nicht als Ergebnis, sondern als kontinuierlichen Aushandlungsprozess begreifen
Nachhaltigkeit braucht Reflexion – und mehr Mut zur Ambivalenz
Nachhaltigkeit darf nicht zum technokratischen Mantra verkommen. Wir brauchen eine Debatte darüber, wer wie über Nachhaltigkeit entscheidet, welche Perspektiven systematisch ausgeblendet werden – und wie wir Macht, Verantwortung und Wissen neu verhandeln können.
Systemisches Denken – insbesondere durch Critical Systems Heuristics – eröffnet hier einen wertvollen Raum:
Nicht um einfache Lösungen zu liefern, sondern um die richtigen Fragen zu stellen.
Denn wahre Nachhaltigkeit beginnt nicht mit dem Zertifikat, sondern mit dem Willen, die eigene Perspektive zu hinterfragen.