Systems Thinker: Jay W. Forrester (1918–2016)
Jay W. Forrester
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Jay Wright Forrester wurde 1918 auf einer Ranch im ländlichen Nebraska geboren . Das Aufwachsen auf einer Farm in den Great Plains prägte seinen praktischen Erfindergeist: Bereits als Jugendlicher baute er aus alten Autoteilen eine Windmühle, um das entlegene Elternhaus mit Strom zu versorgen . Dieser Sinn fürs Tüfteln und die Erfahrung, wie man mit begrenzten Mitteln innovative Lösungen findet, begleiteten ihn durch sein langes Leben. Forrester studierte Elektrotechnik, zuerst an der University of Nebraska (Abschluss 1939) und ab 1939 als Graduate Student am Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er am MIT an militärischen Projekten, etwa an elektronischen Steuerungssystemen für Radarantennen und Flugabwehr – Erfahrungen, die ihm zeigten, wie Theorie und Praxis ineinandergreifen . Nach dem Krieg heiratete er 1946 seine Frau Susan, mit der er bis zu ihrem Tod 64 Jahre verheiratet blieb . Persönlich wurde Forrester als bodenständig und zielstrebig beschrieben. Ein gern erzählter Ausspruch von ihm lautet: „Ich habe mehrere Karrieren gehabt – angefangen als Ranchhelfer“ . Tatsächlich durchlief Forrester in seinem Leben außergewöhnlich viele Rollen: vom Ranchjungen über den Elektronik-Pionier bis hin zum Management-Professor und Vordenker globaler Modelle. Trotz all dieser Veränderungen blieb er privat bescheiden. Er liebte es beispielsweise, neue Technik selbst auszuprobieren – so fuhr er mit über 80 Jahren noch begeistert auf einem elektrischen Segway-Roller über den MIT-Campus . Jay Forrester starb 2016 im Alter von 98 Jahren und hinterließ nicht nur eine trauernde Familie, sondern auch ein weltweites Netzwerk von Schülern und Bewunderern.
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Forresters akademischer Weg begann in der Ingenieurwissenschaft und fand seinen Höhepunkt in der Sozialwissenschaft. Nach dem Masterabschluss am MIT (1945) wurde er Forschungsingenieur und baute mit dem Team von Professor Gordon S. Brown den ersten Echtzeit-Digitalcomputer, genannt Project Whirlwind . In diesem Zusammenhang erfand Forrester 1949 den magnetischen Kernspeicher, eine revolutionäre Form des Arbeitsspeichers, die über zwei Jahrzehnte Standard in allen Digitalrechnern war . Mitte der 1950er-Jahre schlug Forrester dann eine neue Richtung ein: Er verließ die klassische Technik und wechselte 1956 an die MIT Sloan School of Management, um sich dem Studium von Unternehmensprozessen zu widmen . Ihm war aufgefallen, dass auch Fabriken und Organisationen als Systeme mit Rückkopplungen funktionieren – ähnlich wie Maschinen.
Während einer Untersuchung in einem General-Electric-Werk beobachtete er beispielsweise, dass Nachfrageschwankungen und Lagerbestände zyklische „Boom-und-Bust“-Muster erzeugten, die nicht durch äußere Marktkräfte, sondern durch interne Entscheidungsregeln verursacht wurden . Forrester begann, solche Phänomene mittels Computermodellen nachzubilden, und legte damit den Grundstein für die Systemdynamik als wissenschaftliche Methode . 1961 veröffentlichte er sein erstes Buch Industrial Dynamics, in dem er die Prinzipien dieser Ansatzes darlegte . Es folgten Urban Dynamics (1969), eine kontroverse Analyse städtischer Entwicklungsprobleme, und World Dynamics (1971), ein weltweit vernetztes Modell zu Bevölkerungswachstum, Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung. Letzteres machte Forrester zu einem frühen Kritiker des ungehemmten Wachstums – eine Haltung, die ihm damals Widerspruch einbrachte, ihn aber rückblickend als visionär ausweist . Forrester war auch ein engagierter Hochschullehrer. 1958 wurde er Professor am MIT, wo er bis zu seiner Emeritierung 1989 lehrte.
Viele seiner Doktoranden – darunter Dennis Meadows, Jørgen Randers und John Sterman – wurden selbst zu führenden Systemdenkern. Forrester pflegte einen rigorosen, aber fördernden Stil: Er war bekannt dafür, studentische Arbeiten mit roter Tinte voller Kommentare zu versehen. „Die Begegnung mit Jays Kritik war ein Geschenk, denn alles, was man danach tat, wurde besser“, erinnert sich Sterman an Forresters Feedback-Kultur . Diese Mischung aus ingenieurwissenschaftlicher Präzision und sozialwissenschaftlicher Weitsicht macht Forresters akademische Entwicklung einzigartig: Er schlug Brücken zwischen Disziplinen, die zuvor wenig Berührung hatten, und schuf damit ein neues Feld, in dem Technik, Wirtschaft und Umwelt zusammen gedacht werden.
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Die gesellschaftliche Wirkung von Jay Forrester ist kaum zu überschätzen – seine Ideen prägen sowohl die technologische Welt als auch die Managementpraxis bis heute. Als Computerpionier legte er grundlegende Bausteine für die digitale Revolution: Forresters Kernspeicher ermöglichte erst die Entwicklung leistungsfähiger Computer und wurde in praktisch allen Großrechnern von den 1950er- bis in die 1970er-Jahre eingesetzt . Er spielte zudem eine Schlüsselrolle beim US-Luftverteidigungsprojekt SAGE, indem er mit seinem Team das Echtzeit-Computersystem dafür entwickelte . Viele moderne Technologien fußen auf seinen frühen Arbeiten. Sein Einfluss reicht „von der Flugverkehrskontrolle über 3D-Drucker bis hin zur Software, mit der Unternehmen ihre Lieferketten steuern, und den Simulationen, mit denen Nationen den Klimawandel verstehen“ – die heutige Welt wurde in vieler Hinsicht durch Forresters Werke mit ermöglicht .
Als Vater der Systemdynamik hat Forrester außerdem das Denken in komplexen Rückkopplungssystemen salonfähig gemacht. Sein „Beer Game“, ein von ihm entwickeltes Planspiel zur Lieferkettensteuerung, ist bis heute ein fester Bestandteil von Wirtschafts- und Logistikstudiengängen weltweit und verdeutlicht spielerisch den Peitscheneffekt(Bullwhip-Effekt) in Wertschöpfungsketten . Auf strategischer Ebene nutzen zahlreiche Organisationen System-Dynamik-Modelle für Langfristprognosen – beispielsweise in der Stadtplanung, im Energiesektor oder zur Simulation von Epidemien. Forrester selbst trug in den 1970ern mit seinem Weltmodell dazu bei, die globale Umweltdebatte zu starten: Vier seiner MIT-Schüler schrieben auf Basis seiner Ideen Die Grenzen des Wachstums (1972), das die internationale Nachhaltigkeitsbewegung einläutete . Auch institutionell hat Forrester Spuren hinterlassen. 1983 wurde er erster Präsident der neu gegründeten System Dynamics Society, was die Etablierung des Fachgebiets förderte. Zudem setzte er sich in den 1990ern dafür ein, Systemdenken in Schulen zu verankern, weil er überzeugt war, dass die nächste Generation diese Fähigkeiten braucht, um globale Probleme zu lösen.
Für seine vielfältigen Verdienste erhielt Forrester zahlreiche Ehrungen: 1979 zog man ihn in die National Inventors Hall of Fame ein , 1989 verlieh ihm US-Präsident George H.W. Bush die Nationale Medaille für Technologie und Innovation , und Fachgesellschaften weltweit – von der IEEE bis zur Internationalen OR-Gesellschaft – würdigten ihn mit ihren höchsten Auszeichnungen . Jay Forrester hat damit nicht nur konkrete technische Errungenschaften hinterlassen, sondern auch eine neue Art zu denken, die in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen Anwendung findet.
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Forrester galt als eher introvertierter, nachdenklicher Mensch, der jedoch in kleinen Runden humorvoll sein konnte. Eine Anekdote aus seiner MIT-Zeit illustriert seine Bescheidenheit: Während eines Treffens fragte ein Student neugierig, wie Forrester es geschafft habe, von der Elektronik zum Management zu wechseln und ein neues Feld zu begründen. Forrester lächelte nur und entgegnete: „Nun, ich habe eben mehrere Karrieren gehabt – angefangen als Ranchhelfer.“ Diese scherzhafte Selbstbeschreibung fasst sein Leben treffend zusammen. In Bezug auf Management und Führung brach Forrester gerne mit gängigen Vorstellungen. Er betonte etwa, dass nicht einzelne Top-Manager über Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens entscheiden, sondern das gesamte System mit seinen Strukturen. „Sehr oft agieren Menschen nur als Rollenspieler innerhalb des Systems… Ohne systemisches Verständnis verfallen sie in ein Verhaltensmuster, das das System vorgibt. Verstehen sie jedoch das System, können sie dieses Verhalten ändern“, erklärte Forrester. Damit wollte er ausdrücken, dass echte Veränderung nur möglich ist, wenn man die zugrunde liegenden Regeln und Rückkopplungen angeht, anstatt einzelne Personen zu überschätzen. Kollegen und Studierende erzählen auch vom „rotstiftbewaffneten“ Forrester: Er korrigierte Aufsätze mit zahllosen Anmerkungen. Anfangs konnte das entmutigend wirken, doch wie sein Schüler John Sterman berichtet, war es „ein Geschenk, seine Kritik zu erhalten – alles wurde dadurch besser“ . Diese Anekdote zeugt von Forresters Leidenschaft als Lehrer und seinem Perfektionsanspruch.
Persönlich blieb Forrester trotz aller Erfolge bodenständig. Er kleidete sich oft in schlichter Westernmanier und hegte eine Liebe zu praktisch Bodenständigem – so ist überliefert, dass er noch mit über 90 Jahren täglich sein Büro am MIT aufsuchte, um „nach dem Rechten zu sehen“. In Erinnerung bleibt Jay Forrester als jemand, der leise, aber beharrlich Großes bewirkte, und der bis ins hohe Alter neugierig und lernbereit blieb.
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Jay Forresters Ideen haben in der heutigen Welt sogar noch an Bedeutung gewonnen. Die Systemdynamik ist zu einem unverzichtbaren Werkzeug geworden, um komplexe globale Herausforderungen zu analysieren – von der Klimapolitik über die Energieplanung bis zur Pandemiebekämpfung. Seine frühe Warnung, dass unbegrenztes Wachstum in einer endlichen Welt unweigerlich an Grenzen stößt, wird mittlerweile breit geteilt. Was in den 1970ern viel Widerspruch hervorrief, gilt heute fast als Gemeingut: „Der Zusammenprall zwischen den endlichen Ressourcen unseres Planeten und weiterem Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum treibt Probleme wie Klimawandel, Entwaldung, Fischereischwund, Ressourcenkonflikte und Massenmigration“, erklärte John Sterman im Rückblick auf Forresters Werk. Damit bestätigte er, dass die von Forrester beschriebenen Dynamiken die zentralen Themen unserer Zeit sind. Regierungen und Organisationen weltweit verwenden Systemmodelle nach Forresters Prinzip, um etwa Klimaszenarien durchzuspielen oder Lieferkettenrisiken abzuschätzen. Auch in der Betriebswirtschaft sind Begriffe wie Rückkopplungseffekte, Verzögerungszeiten und nicht-lineare Wechselwirkungen – alles Konzepte aus der Systemdynamik – in den allgemeinen Wortschatz übergegangen.
Führungskräfte werden heute geschult, in Systemzusammenhängen zu denken, anstatt isolierte Entscheidungen zu treffen. Forresters Ansatz der „Management-Flugsimulation“ – Entscheidungen im Computer erst zu testen, bevor man sie in der Realität umsetzt – findet zum Beispiel in Planspielen für Stadtentwicklung oder Unternehmensstrategie Anwendung. Zudem fließen seine Ideen in die Bildung ein: Systeme denken zu lernen, gilt als Schlüsselkompetenz, was sich in Schulfächern wie Wirtschaft- und Sozialkunde zunehmend widerspiegelt. Nicht zuletzt lebt Forresters Erbe in der Nachhaltigkeitsbewegung fort. Die Klimamodelle der Weltklimaberichte (IPCC) arbeiten mit System-Dynamik-Komponenten, um das Zusammenspiel von Emissionen, Atmosphäre, Ozeanen und Wirtschaft abzubilden – ein direkter Nachfahre von Forresters Weltmodellen. Insgesamt hat Jay Forrester der Wissenschaft und Gesellschaft ein mächtiges Denkzeug hinterlassen, um komplexe Probleme im Ganzen zu begreifen und vorausschauend zu handeln. In einer immer vernetzteren Welt sind seine Methoden und Prinzipien deshalb relevanter denn je.