Systems Thinker: Russell L. Ackoff (1919–2009)

Russell L. Ackoff

  • Russell Lincoln Ackoff wurde 1919 in Philadelphia geboren und wuchs während der Großen Depression auf – Erfahrungen, die sein Gespür für soziale Probleme schärften . Früh zeigte sich seine vielseitige Begabung: Er interessierte sich für Kunst ebenso wie für Wissenschaft. Ackoff begann 1937 ein Architekturstudium an der University of Pennsylvania und schloss dieses 1941 mit dem Bachelor ab . Doch dann unterbrach der Zweite Weltkrieg seinen Bildungsweg. Von 1942 bis 1946 diente Ackoff in der US-Armee, u.a. auf den Philippinen . Diese Jahre formten seinen Charakter – er entwickelte Führungskompetenz und die Überzeugung, dass Theorie einen praktischen Unterschied machen müsse. Nach Kriegsende kehrte Ackoff an die Universität zurück und promovierte 1947 in Philosophie der Wissenschaft am gleichen Institut. Dort wurde er Schüler von C. West Churchman und beeinflusst vom Philosophen Edgar A. Singer Jr., der einen experimentellen, pragmatischen Ansatz vertrat . Ackoff heiratete während dieser Zeit (seine erste Frau Alexandra lernte er an der Penn kennen ) und gründete eine Familie. Seine Freunde und Kollegen beschrieben ihn später als echten „Renaissance-Menschen“ – Ackoff war Architekt, Stadtplaner, Philosoph, Verhaltenswissenschaftler und Pionier der Organisationsforschung in einer Person . Er liebte Jazz-Musik, gutes Essen und lebhafte Debatten. Dieses breite Interessenspektrum floss in sein Berufsleben ein: Ackoff wollte die Welt in ihrer Gesamtheit verstehen, nicht in isolierten Teilen. Er blieb zeit seines Lebens in Philadelphia verwurzelt, auch wenn seine Arbeit ihn um den ganzen Globus führte. In persönlichen Anekdoten erscheint Ackoff als charismatische und manchmal auch provokante Persönlichkeit. So pflegte er im Privaten gern humorvolle Aphorismen: „Ein Experte“, scherzte er etwa, „ist jemand, der über immer weniger immer mehr weiß, bis er von nichts alles weiß.“ Diese augenzwinkernde Art half ihm, komplexe Einsichten mit Leichtigkeit zu vermitteln – eine Fähigkeit, die ihm viel Bewunderung einbrachte.

  • Ackoffs akademische Laufbahn war unkonventionell und interdisziplinär. Nach seinem Ph.D. in Philosophie zog es ihn zunächst in die Lehre: 1947 wurde er Assistant Professor für Philosophie und Mathematik an der Wayne State University in Detroit . Gemeinsam mit seinem Mentor Churchman versuchte er dort, philosophische Prinzipien praktisch anzuwenden – sie gründeten ein Institut für „experimentelle Methoden“, um Wissenschaft und Gesellschaft zu verbinden . 1951 wechselte Ackoff mit Churchman an die Case Institute of Technology in Cleveland (heute Teil der Case Western Reserve University). Dort halfen sie, einen der weltweit ersten Lehrstühle für Operations Research (OR) aufzubauen. Operations Research, die Wissenschaft vom organisierten Problemlösen, steckte damals in den Anfängen. Ackoff war sozusagen ein Vater dieser Disziplin – er gehörte 1952 zu den Gründungsmitgliedern der Operations Research Society of America und wurde später ihr Präsident. 1957 verfasste er zusammen mit Churchman und Leonard Arnoff das erste Lehrbuch Introduction to Operations Research, das zum Standardwerk wurde . Ackoff war allerdings nie ein reiner Theoretiker; ihn trieb die praktische Lösung realer Probleme an. 1964 holte die renommierte Wharton School (University of Pennsylvania) Ackoff zurück nach Philadelphia, um dort den Fachbereich Statistik und Operations Research zu stärken . In den folgenden Jahren begann Ackoff jedoch, sich vom klassischen OR abzuwenden. Er kritisierte, dass sich OR zu sehr in mathematische Modellierung vergrabe und die eigentlichen Menschheitsprobleme aus dem Blick verliere . Mit der Unterstützung der Wharton School gründete er 1980 einen völlig neuartigen Studiengang namens Sozial-System-Wissenschaften (Social Systems Sciences) und übernahm dessen Leitung. Dieses Programm brach bewusst mit Disziplin-Grenzen und lehrte die Studenten, unabhängig und systemübergreifend zu denken.

    Ackoff hatte damit faktisch eine neue akademische Disziplin geschaffen, die Management, Soziologie, Politik und Systemtheorie vereinte. Seine philosophischen Wurzeln (Singer und Churchman) spiegelten sich in Lehrinhalten wider: Ethik, Verantwortung und Ganzheitlichkeit standen im Vordergrund, nicht allein mathematische Optimierung. 1986 ging Ackoff offiziell in den Ruhestand und wurde Emeritus in Wharton . Doch „Ruhestand“ bedeutete für ihn weiterhin rege Aktivität: Er gründete das Institute for Interactive Management (INTERACT), mit dem er weltweit Organisationen bei partizipativen Planungsprozessen beriet . Außerdem nahm er Lehraufträge an – so kehrte er 2003 im Alter von 87 Jahren als Distinguished Professor an die Universität zurück, um im Programm für Organisationsdynamik zu unterrichten . Ackoffs akademisches Wirken war geprägt von ständiger Erneuerung und dem Mut, eingefahrene Wege zu verlassen. Er bewies, dass eine fundierte philosophische Ausbildung und praxisnahes Managementwissen sich fruchtbar ergänzen können, um neuartige Denkansätze hervorzubringen.

  • Russell Ackoff hinterlässt ein beeindruckendes Lebenswerk, das sowohl die Theorie als auch die Praxis des Managements und der Systemwissenschaft beeinflusst hat. In seinen frühen Jahren trug er zur Institutionalisierung des Operations Research bei – jener Disziplin, die während des Zweiten Weltkriegs entstanden war, um mit analytischen Methoden komplexe Probleme (etwa in Logistik oder Militär) zu lösen. Durch sein Lehrbuch von 1957 und seine Mitwirkung an OR-Programmen in den USA und Großbritannien (Ackoff beriet z.B. in den 1960ern die University of Lancaster beim Aufbau eines OR-Studiengangs) bildete er eine ganze Generation von Problemlösern aus . Bald erkannte er jedoch die Grenzen der rein analytischen Methode. Seine vielleicht größte theoretische Leistung ist die Einführung des Begriffs „Mess“ (im Deutschen etwa „Schlamassel“ oder „Problemknäuel“) für ein System ineinandergreifender Probleme . Ackoff zeigte damit, dass viele Herausforderungen – ob in Unternehmen oder der Gesellschaft – nicht isoliert gelöst werden können, weil sie Teil eines vernetzten Problemsystems sind . Statt singulärer Lösungen forderte er ganzheitliche Ansätze: Man müsse alle Beteiligten einbeziehen und das System neu gestalten, um ein „Mess“ aufzulösen . Diese Ideen vermittelte er in zahlreichen Büchern, Vorträgen und Beratungsprojekten.

    Einige seiner bekanntesten Werke sind The Art of Problem Solving (1978), Creating the Corporate Future (1981) und Management in Small Doses (1986). Insgesamt veröffentlichte Ackoff fast drei Dutzend Bücher und über 300 Aufsätze . Viele seiner Schriften wurden in mehr als 15 Sprachen übersetzt , was seine weltweite Ausstrahlung unterstreicht. Als Berater arbeitete Ackoff mit über 350 Unternehmen und 75 Regierungsbehörden zusammen . Ein prominentes Beispiel ist seine jahrzehntelange Tätigkeit für Anheuser-Busch (den Braukonzern hinter Budweiser): Hier begleitete er Projekte zu Logistik, Marketing, Planung und sogar Umweltfragen und trug dazu bei, dass das Unternehmen seinen Marktanteil erheblich steigern konnte . Ebenso engagierte er sich in benachteiligten Gemeinden – so startete er 1968 ein Partizipationsprojekt im armen Viertel Mantua in Philadelphia mit dem Motto „Plan or be planned for“ . Auch im hohen Alter blieb Ackoff aktiv: 2005 gründete er mit Kollegen die Initiative „Adopt-a-Neighborhood“, um Hilfe zur Selbstentwicklung in ärmeren Gemeinden zu fördern.

    Weltweit entstanden Institutionen, die seinen Namen tragen, etwa das Ackoff Center for Advanced Systems Approaches (ACASA) 2000 an der University of Pennsylvania , ein Ackoff-Zentrum für Design Thinking 2009 in Südafrika und Forschungsprogramme in Russland und Bulgarien . Diese Ehren zeugen von Ackoffs internationalem Ansehen. Er wurde ferner in die Hall of Fame der International Federation of Operational Research Societies aufgenommen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen sowie sechs Ehrendoktorwürden . Zusammenfassend liegt Ackoffs gesellschaftliche Wirkung in zwei Hauptbeiträgen: Er hat Unternehmen gelehrt, durch partizipatives Planen und idealisiertes Design ganz neue Lösungen zu entwickeln, anstatt alte Probleme lediglich zu optimieren . Und er hat der Wissenschaft verdeutlicht, dass Systemdenken – das gleichzeitige Verständnis aller Teile und ihrer Beziehungen – der Schlüssel ist, um die „vertrackten“ Probleme unserer Zeit anzugehen.

  • Russell Ackoff war bekannt für seinen scharfen Verstand und seinen ebenso scharfen Witz. Zahlreiche Anekdoten ranken sich um seine Vorträge, in denen er das Publikum mit unerwarteten Metaphern aufrüttelte. Ein berühmtes Beispiel: Ackoff verglich die übliche Unternehmensplanung einmal mit einem „rituellen Regentanz“ – „sie hat keinen Einfluss auf das Wetter, das danach kommt, aber die Teilnehmer glauben, dass sie wirkt. Und obendrein richtet sich der meiste Rat zum Thema Planung darauf, den Tanz zu verbessern, nicht das Wetter“ . Mit dieser pointierten Analogie wollte er sagen, dass viele firmeninterne Planungsroutinen Selbstzweck sind und die eigentlichen Ziele verfehlen. Ackoff liebte solche provokativen Vergleiche, weil sie komplexe Sachverhalte greifbar machten und zur Selbstkritik anregten. Ein weiteres oft zitiertes Bonmot von ihm betrifft das Lösen falscher Probleme: „Erfolgreiches Problemlösen erfordert die richtige Lösung für das richtige Problem. Wir scheitern öfter daran, dass wir das falsche Problem lösen, als dass wir die falsche Lösung für das richtige Problem finden.“ Diese Aussage aus den 1970er-Jahren ist inzwischen fast sprichwörtlich geworden und unterstreicht Ackoffs Fokus auf Effektivität statt bloßer Effizienz.

    Persönliche Erinnerungen von Kollegen zeichnen Ackoff als charismatischen und manchmal ungehaltenen Diskutanten. Er scheute sich nicht, in Sitzungen deutlich zu sagen, wenn etwas „Unsinn“ war, aber stets mit dem Ziel, ein besseres Verständnis zu erreichen. Eine Schülerin berichtete schmunzelnd, Ackoff habe in Seminaren gern Fangfragen gestellt, um lineares Denken aufzudecken – wer darauf hereinfiel, erntete zunächst einen väterlichen Tadel, bekam dann aber ausführlich erläutert, wie man es anders betrachten könne. Trotz seines professoralen Auftretens war Ackoff sehr zugänglich: Viele nannten ihn einfach „Russ“. In seinen späten Jahren schrieb er humorvolle Management-Aphorismen, die er „F-Laws“ (etwa: „Fehl-Gesetze“) taufte – kleine Weisheiten wie „Die rücksichtslosesten Entscheidungsträger treffen interessanterweise häufig die rückhaltlosesten Entscheidungen.“ Diese Mischung aus Tiefgang und Humor machte Ackoff zu einem gefragten Redner und geschätzten Mentor. Er konnte über sich selbst lachen und verglich sich einmal augenzwinkernd mit Albert Einstein – nicht vom Intellekt her, sondern weil beide die Perspektive ihrer Disziplin grundlegend verändert haben .

  • Die Relevanz von Ackoffs Gedankengut ist in der heutigen komplexen Welt ungebrochen – ja, sie nimmt eher noch zu. Moderne Begriffe wie „Wicked Problems“ (vertrackte Probleme) oder „Systeminnovation“ greifen im Kern Ackoffs Konzept des „Mess“ auf: Die Einsicht, dass man Probleme als vernetzte Systeme begreifen muss, ist heute Gemeingut in vielen Bereichen, von der Stadtplanung bis zur Gesundheitsversorgung. Ackoffs Forderung, alle Stakeholder in Veränderungen einzubeziehen, findet sich beispielsweise in Design-Thinking-Workshops und agilen Organisationsmethoden wieder, die auf umfassende Beteiligung und iterative Verbesserung setzen – Prinzipien, die Ackoff bereits vor Jahrzehnten propagierte. Insbesondere im Management und in der Organisationsentwicklung gilt Ackoff als Vordenker: Seine Schriften sind weiterhin Pflichtlektüre, um Systemdenken und Organisationstheorie zu verstehen . Seine Ideen inspirieren ganzheitliche Problemlösungsansätze und partizipative Veränderungsprozesse in Unternehmen weltweit . Beispielsweise legen immer mehr Firmen Wert auf Purpose (den übergeordneten Sinn ihres Wirtschaftens) anstatt nur auf Profitmaximierung – eine Haltung, die Ackoff mit seiner Kritik an engstirnigen Zielsystemen vorwegnahm.

    Auch im öffentlichen Sektor setzt sich die Erkenntnis durch, dass isolierte Maßnahmen selten genügen: Fragen wie der Klimawandel, die Digitalisierung oder die COVID-19-Pandemie werden heute als systemische Herausforderungen betrachtet, die interdisziplinäre Lösungen erfordern – ganz im Sinne Ackoffs. Seine Betonung von Analyse und Synthese – Probleme nicht nur in Einzelteile zu zerlegen, sondern die Teile wieder zum großen Ganzen zusammenzufügen – spiegelt sich in aktuellen Bewegungen wider, die Silodenken überwinden wollen. Zudem hat Ackoffs partizipatives Planungsparadigma ein Vermächtnis in Form konkreter Methoden hinterlassen, etwa der von ihm entwickelten „idealized design“ Methode, bei der Organisationen gemeinsam ihr Wunsch-Zielbild entwerfen, um dann rückwärts zu planen. Solche Ansätze werden in der Strategieentwicklung zunehmend angewandt. Insgesamt formte Ackoff mit seiner Arbeit einen Teil der Grundlagen, auf denen das heutige systemische Management aufbaut.

    Seine Botschaft, lieber das richtige Problem schlecht zu lösen als das falsche perfekt, mahnt noch immer Entscheider in Wirtschaft und Politik, genau hinzuschauen, woran sie eigentlich arbeiten. So lebt Russell Ackoffs Geist in jedem fort, der komplexe Probleme mit Weitblick, Kreativität und Menschlichkeit anpackt – eine Agenda, die aktueller kaum sein könnte. 

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