Systemische Denker: Ludwig von Bertalanffy (1901–1972)
Ludwig von Bertalanffy
Ludwig von Bertalanffy war ein österreichischer Biologe und Systemtheoretiker, der als Begründer der Allgemeinen Systemtheorie (General Systems Theory) gilt . Sein Lebensweg war geprägt von intellektueller Neugier, einem wechselvollen akademischen Werdegang und dem Streben, die Wissenschaft durch einen ganzheitlichen Blick zu verändern. Bereits als Kind in Wien zeigte Bertalanffy vielseitige Interessen: Er wuchs als Einzelkind auf, erhielt Hausunterricht und entwickelte früh eine Faszination für Biologie. Inspirierend wirkte sein Nachbar, der Biologe Paul Kammerer, der für den jungen Ludwig zum Vorbild wurde . Bertalanffy studierte zunächst Kunstgeschichte und Philosophie, wandte sich dann aber der Biologie zu, da er meinte, er könne „später immer noch Philosoph werden“ . 1926 promovierte er bei dem Philosophen Moritz Schlick mit einer Arbeit über Gustav Fechner und das Problem „der Integration höherer Ordnung“, womit er bereits früh die Idee emergenter Ganzheiten verfolgte .
In den 1930er Jahren begann Bertalanffy seine akademische Karriere an der Universität Wien, doch war die Zeit politisch wie persönlich schwierig. 1938, nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland, kehrte er von einem Forschungsaufenthalt in den USA zurück und beantragte die Aufnahme in die NSDAP . Zwar war er kein glühender Antisemit, doch versuchte er opportunistisch, seine Karriere durch Anpassung an die herrschende Ideologie zu sichern . So verband er während des Zweiten Weltkriegs seine organismische Biologie zeitweise mit dem Führerprinzip der Nationalsozialisten . Diese Nähe zum Regime belastete ihn jedoch später: Nach Kriegsende wurde ihm wegen der NSDAP-Mitgliedschaft der Professorentitel aberkannt und die Lehrbefugnis entzogen . Bertalanffy sah sich gezwungen, Österreich zu verlassen, und setzte seine Laufbahn international fort. Er hatte Professuren in London, Kanada und den USA inne – unter anderem in Montreal, Ottawa, Los Angeles und Edmonton – bevor er 1969 an die State University of New York in Buffalo wechselte . Dort forschte und lehrte er bis zu seinem Tod 1972 an einem Herzinfarkt. Trotz mancher Kontroversen in seiner Heimat erarbeitete er sich so einen Ruf als Vordenker in der Ferne.
Bertalanffys Persönlichkeit und Denkweise waren komplex. Einerseits galt er als brillanter Visionär, andererseits eckte er oft an. Finanzielle Nöte und das Streben nach Anerkennung machten ihn ambitioniert – teils auch kämpferisch. Er stand wiederholt in konfliktreichen Auseinandersetzungen mit akademischen Institutionen, an denen er tätig war . In schwierigen Zeiten konnte er jedoch auf loyale Freunde zählen: So unterstützte ihn etwa der Biologe Joseph Woodgermehrfach, als Bertalanffy und seine Familie während des Krieges und danach in Not gerieten . Privat fand Bertalanffy Halt in seiner Familie. Seit 1925 war er mit Maria Bauer verheiratet, die er als Student kennengelernt hatte. Sie stellte ihre eigenen Studien zurück, um ihm den Rücken zu stärken – eine Partnerschaft auf Augenhöhe über fast 40 Jahre . Das Paar hatte einen Sohn, der später in der Krebsforschung arbeitete und somit das wissenschaftliche Erbe seines Vaters weiterführte . Diese Anekdoten zeigen einen Bertalanffy, der neben dem streitbaren Gelehrten auch der Familienmensch und Freund war.
Systemische Ideen und Vermächtnis: Bertalanffys bedeutsamster Beitrag ist die Entwicklung der Allgemeinen Systemtheorie, mit der er ein völlig neues wissenschaftliches Paradigma etablierte. Er war überzeugt, dass wissenschaftliche Disziplinen nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern übergreifende Prinzipien allen Systemen – ob biologisch, technisch oder sozial – zugrunde liegen. Als Biologe kritisierte er den damals vorherrschenden reduktionistischen Neo-Darwinismus als unzureichend und „vage“ . Statt Einzelphänomene isoliert zu betrachten, propagierte er einen ganzheitlichen Ansatz (Holismus) . So prägte er den Begriff des „offenen Systems“: Lebende Organismen und auch menschliche Gesellschaften stehen in ständigem Austausch mit ihrer Umwelt – im Gegensatz zu abgeschlossenen Systemen der Physik . Dafür führte er Konzepte wie das Fließgleichgewicht (steady state) ein, um zu beschreiben, wie in offenen Systemen ein dynamisches Gleichgewicht durch steten Energie- und Materieaustausch aufrechterhalten wird . Bertalanffy suchte nach universellen Gesetzmäßigkeiten, etwa Rückkopplung, Selbstorganisation, Gleichgewicht oder Komplexität, die auf vielen Ebenen gelten . Sein oft zitiertes Motto lautete, die Welt als Organisation zu begreifen und die wechselseitigen Abhängigkeiten innerhalb der Biosphäre anzuerkennen . Er schrieb: „We must envision the biosphere as a whole with mutually reinforcing or mutually destructive inter-dependencies.“ – wir müssen die Biosphäre als Ganzes sehen, mit gegenseitig verstärkenden oder zerstörerischen Abhängigkeiten . Dieses ganzheitliche Denken spiegelte sich in all seinen Werken wider.
Die Wirkung von Bertalanffys Ideen auf Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft ist bis heute spürbar. Gemeinsam mit Gleichgesinnten wie dem Ökonomen Kenneth Boulding gründete er 1954 die Society for General Systems Research, um den systemischen Ansatz international voranzutreiben.
Diese Gesellschaft besteht noch heute – inzwischen als International Society for the Systems Sciences (ISSS) – und verbreitet systemisches Gedankengut weltweit. Bertalanffys Allgemeine Systemtheorie selbst wurde zur Keimzelle für zahlreiche interdisziplinäre Forschungsfelder. Sie beeinflusste unter anderem die Psychologie (etwa in der Familientherapie und Gestalttheorie), die Ökologie und Klimaforschung (Stichwort ökosystemare Sichtweise) sowie die Managementlehre und Organisationsentwicklung, wo ganzheitliches Systemdenken heute zum Standardrepertoire gehört . Viele Begriffe und Konzepte, die er einführte, sind in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, wenn es darum geht, komplexe Probleme zu beschreiben – man denke an „Systeme“, die mehr sind als die Summe ihrer Teile, oder an Wechselwirkungen und Netzwerke in Unternehmen und Gesellschaft. In der modernen Komplexitätsforschung gilt Bertalanffy gar als wichtiger Vorreiter, der die konzeptionelle Bühne für spätere Entwicklungen bereitet hat. Insgesamt hat Ludwig von Bertalanffy unser Verständnis von Zusammenhängen geprägt: Seine systemischen Ideen leben fort in der Art, wie Wissenschaftler und Praktiker verschiedenster Disziplinen auch heute noch an Herausforderungen herangehen – sei es in der Systembiologie, der Systemtechnik oder in ganz aktuellen Ansätzen für nachhaltige Entwicklung, die immer das große Ganze im Blick behalten.